Hervé Niquet studierte bei Marie-Cécile Morin, einer ehemaligen Schülerin von Marguerite Long und Maurice Ravel, die mit Samson François befreundet war. Geprägt von dieser Ausrichtung der Suche nach den ursprünglichen Absichten des Komponisten entwickelte sich seine akribische musikalische Arbeit streng nach den Autographen der Werke.
Nach umfassender Ausbildung als Cembalist, Organist, Pianist, Sänger, Komponist, Chorleiter und Dirigent sammelte Hervé Niquet entscheidende Erfahrungen als Solokorrepetitor an der Opéra National de Paris. Speziell in der Zusammenarbeit mit Choreographen wie Rudolf Nurejev und Serge Lifar entwickelte er sich zum quellenkritischen Erforscher des musikalischen Urtexts abseits tradierter Gewohnheitsinterpretationen.
1987 gründete er Le Concert Spirituel mit dem Ziel, das große französische Motett wieder zu beleben. Inzwischen hat sich Le Concert Spirituel auf der internationalen Szene als eines der führenden Ensembles der Interpretation der Barockmusik durchgesetzt und konzentriert sein Repertoire auf Werke unterschiedlicher Stile und Genres, von der geistlichen Musik über die Sinfonie hin bis zur Oper. Das Ensemble entdeckte und belebte dabei auch unbekannte Werke französischer, englischer und italienischer Komponisten dieser Epoche.
Mit derselben Ernsthaftigkeit dirigiert Hervé Niquet große internationale Orchester inzwischen auch im Repertoire des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, der Überzeugung folgend, dass es auch über die Jahrhunderte hinweg nur eine französische Musik gibt. So beteiligte sich Hervé Niquet als muskalischer Pionier 2009 an der Gründung des Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française in Venedig, mit dem er inzwischen zahlreiche Projekte realisieren konnte. Unter seiner musikalischen Leitung fanden bedeutende Wiederentdeckungen wie Herculanum von Félicien David, Dimitiri von Victorin Joncières, La légende des ours von Marie Jaëll und La Reine de Chypre von Fromental Halévy.
In leidenschaftlicher Begeisterung für die Kunstform Oper leitet Hervé Niquet regelmäßig Bühnenproduktionen, entweder mit Le Concert Spirituel oder als Gastdirigent. Er arbeitete mit Regisseuren unterschiedlichster Stilrichtungen wie Mariame Clément, Georges Lavaudant, Gilles und Corinne Benizio (alias Shirley und Dino), Joachim Schlömer, Christoph Marthaler oder Romeo Castellucci (Glucks Orfeo ed Euridiceam Théâtre Royal de La Monnaie in Brüssel) und Christian Schiaretti (Rameaus Castor et Pollux am Théâtre des Champs-Elysées in Paris).
Als musikalischer Leiter des Vlaams Radio Choir und erster Gastdirigent des Brussels Philharmonic hatte er sich intensiv an einem Aufnahme-Projekt beteiligt, das sich in Kooperation mit dem Palazzetto Bru Zane der Aufnahme von Kantaten des Prix de Rome widmet. Bisher wurden Werke von Claude Debussy, Camille Saint-Saëns, Gustave Charpentier, Max d’Ollone und Paul Dukas veröffentlicht sowie Opernraritäten von Victorin Joncières und Félicien David (2016 wurde Herculanum einen Echo Klassik verliehen).
Darüber hinaus hat für ihn der persönliche Einsatz bei pädagogischen Initiativen mit Nachwuchsmusikern (Académie d’Ambronay, Jeune Orchestre de l'Abbaye aux Dames, Schola Cantorum, CNSMD de Lyon, McGill University in Montreal) größte Bedeutung wie auch Meisterklassen und Lesungen. Das Ergebnis seiner interpretatorischen Arbeit, die aktuellsten musikwissenschaftlichen Entdeckungen, die Realitäten und Ansprüche des Musikerlebens mitzuteilen und weiterzugeben, ist ihm wesentlicher Anteil seiner beruflichen Einstellung.
2019 wurde Hervé Niquet mit dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik gekürt.
Hervé Niquet ist Chevalier de l’Ordre National du Mérite und Commandeur des Arts et des Lettres.
September 2023
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